Die Kapitalisierung des Geistes (Teil II)

Manch Neuzeit-Propheten postulieren für heute das Ende des Zeitalters der Industrialisierung.
Das jedoch die Industrie selbst von einer "vierten industriellen Revolution" spricht, scheint ihnen dabei entgangen zu sein. Man ruft ein neues, ein "Informationszeitalter" aus, stellt traditionelle Denkweisen als ausgetretene Pfade an den Pranger und verknüpft dies (wieder einmal) mit Forderungen nach umfassenden Reformen in der Bildungslandschaft.

So kurz vor dem 500. Jahrestag der Reformation, Kritik an Reformen zu üben, hat den Geruch von Ketzerei an sich. Besonders, wenn es um Reformen im Bildungsbereich geht. Nur droht heute dafür nicht ein Ende auf einem brennenden Scheiterhaufen, man droht mit dem Entzug weiterer, künftiger Lehraufträge. Was letzlich auf ein ähnliches Ende des Betroffenen hinausläuft.

Die »Reform« und das »reformieren« sind mittlerweile zu Zauberwörtern geworden, die nahezu alle Felder des sozialen, politischen und kulturellen Lebens besetzen. [162] Schaut man sich dieses, aus dem Latein entlehnte, Wort »reformieren« etwas näher an, so stößt man auf den Präfix re- für zurück und auf das Verb  formo/forma für bilden/gestalten. Selbst wikipedia interpretiert »Reform« also als Wiederherstellung, auch wenn das Substantiv etymologisch aus dem Französisch des 17. Jahrhundert stammen soll.

Zu Zeiten der Reformation hieß »Reform« und/oder »reformieren« wohl zuerst: eine Sache, die "aus dem Ruder zu laufen" droht, wieder in ihre ursprüngliche Form zu bringen. Nach herrschender Meinung wollte der große Reformator Martin Luther keine neue Kirche gründen, sondern durch Rückbesinnung auf ursprüngliche Aufgaben die bestehende Kirche erneuern. Wiederherstellung, so wie auch die "Reformpädagogik" zum Ende des 19. Jahrhunderts durch Rückwärtsbewegung gekennzeichnet war und "Reformisten" als Bremser revolutionärer Bewegungen geächtet wurden.

Der Reformbegriff der Gegenwart setzt demgegenüber vordergründig auf das Neue und vorallem auf die Zukunft. [161] Es wimmelt gradeso von Schlagworten, die „Herausforderung in der Zukunft“ sehen, „Zukunftschancen“ eröffnen oder die „Zukunftsfähigkeit“ prüfen sollen. Heutige Reformer scheinen den Stein der Weisen gefunden zu haben oder zumindest eine brauchbare Glaskugel. Der alte Reformbegriff wird so auf sein Gegenteil ausgerichtet, und hat heute eher etwas von Erich Mühsams „Der Revoluzzer“, zumindest was die Mentalitäten und das nachfolgende Chaos betrifft, welches dann wieder einer Reform bedarf. In diesem Kontext übe ich Kritik  an den heutigen Reformatoren und deren Reformen.

Die alten Bildungsbegriffe und Bildungsinstitutionen, so hört man, müssen durch neue abgelöst werden. [51] Erfindungsreich und eher weniger als mehr kreativ präsentieren zuerst Marketingabteilungen Wortschöpfungen wie "eduScrum", "Flipped Classroom", Hackathon", "Empowerment", "Mindmapping" und andere Anglizismen, mal als Lehrmethode, mal als Bildungsverständnis. Im selben Atemzug verabschiedet man sich gleich ganz von Bildungszielen und stellt "Reintegration" als unique selling point (USP) in den Mittelpunkt.
Was aber sind Bildungseinrichtungen, deren Ziel nicht mehr die Bildung sein soll?

Anstelle der Bildungsziele der Aufklärung – Autonomie, Selbstbewusstsein und die geistige Durchdringung der Welt – Anstelle der Bildungsziele der Reformpädagogik – Lebensnähe, soziale Kompetenz und Freude am Lernen – Anstelle der Bildungsziele der neoliberalen Schulpolitiker – Flexibilität, Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit [75] – ist ein neuer und doch sehr alter Fokus getreten: Reintegration. Wiedereingliederung. In das bestehende System einer Marktwirtschaft.

Dabei scheut sich ein marketinggesteuertes, auf Bildungsziele verzichtendes Verständnis nicht, auf angebliche Vorbilder wie Comenius (schola pansophia), Rousseau (zurück zur Natur) oder Pestalozzi (ganzheitliche Bildung) zu verweisen. Diese und auch die Vergessenen wie zum Beispiel Alexander von Humboldt (Freiheit der Lehre) und Friedrich Nietzsche (Wille zur Macht) würden sich in ihren Gräbern umdrehen.

Was die [heutigen] Bildungsreformer aller Richtungen eint, ist ihr Haß auf die traditionelle Idee von Bildung. [52] Nicht um Bildung geht es, sondern um ein Wissen, das wie ein Rohstoff produziert, gehandelt, gekauft, gemanagt und entsorgt werden soll, es geht … um ein flüchtiges Stückwissen, das gerade reicht, um Menschen für den Arbeitsprozeß flexibel und für die Unterhaltungsindustrie disponibel zu halten. [53] Kompetenzen (Handlungs-, Medien-, Selbstlern-, ...), Flexibilität, Teamfähigkeit, Kommunikationsbereitschaft und Qualitätssicherung sind die heutigen Schlagworte. Individualität, Freiheit, Neugier und Erkenntnis stehen nicht auf dem Plan.

Daten [werden] als Rohstoff, Information als für ein System oder Unternehmen aufbereitete Daten, Wissen als die Veredelung von Informationen durch Praxis beschrieben. Statt um Erkenntnis geht es um best practice. [149] Statt um Bildung geht es um Marktkonformität, statt um Didaktik geht es um Reize, statt um Menschen geht es um Humankapital.


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[Seite] "Theorie der Unbildung", Konrad Paul Liessmann, Piper-Verlag, 11. Aufl. 2016 (Hervorhebung vom Autor)

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